Kurdische Kultur zum Kennenlernen
Leben, Sitten und Gebrдuche
Faik Timur
Die einzigen Merkmale, die auf viele
zutreffen, sind wahrscheinlich die Form der Nase, die
von Bezik Nikitin als „Adlernase" bezeichnet wird, und
die hohen Wangenknochen. Aber auch hier gibt es wieder
viele Ausnahmen. Obwohl Kurdistan eine Kolonie ist, die von vier Staaten
besetzt wird, haben sich in seinem Inneren die eigenen
kurdischen Gesellschaftsstrukturen erhalten. Die
kurdische Gesellschaft ist in Stammesverbдnden
organisiert. Jeder Stamm hat seinen eigenen Namen, der
entweder auf eine weise Person oder auf einen Helden des
Stammes zurьckzufьhren ist. Neben dem gemeinsamen
Stammesnamen hat jede Familie ihren eigenen Namen.
Dieser Familienname ist entweder Name des Vaters oder
der Mutter, je nachdem wer in der Familie als
ьberlegener gilt. So ist bei „Cemila Celil" Celil der
Name des Vaters von Cemila, wдhrend bei „Ker Kulilke
Werde" Werde der Name der Mutter ist. Hat jemand eine
wichtige soziale oder berufliche Position erreicht, so
wird oft auch der Name der Stellung bzw. des Berufes als
Familienname benutzt. Offiziell fьhren die KurdInnen in
ihren Papieren zumeist tьrkische, arabische oder
persische Familiennamen. Nur in den Staaten der
ehemaligen Sowjetunion kцnnen sie ihre kurdischen
Familiennamen auch offiziell benutzen. Untereinander
werden sie jedoch immer benutzt. In den Dцrfern kennen
sich die Dorfbewohner zumeist nur mit den kurdischen
Familiennamen, die offiziellen sind hдufig unbekannt.
Die einzelnen Stдmme stehen durch
Hochzeiten oder kirveti (Patenschaften) miteinander in
Verbindung. Sie unterstьtzen manchmal gemeinsam einen
Bewerber bei der Kandidatur um ein Amt und helfen sich
bei Todesfдllen, Hochzeiten und дhnlichen
Feierlichkeiten. Oder einige Stдmme verbьnden sich, um
zwei verfeindete Stдmme zu versцhnen. Da die Stдmme kein
Vertrauen in die Institutionen der Besat-zungsmдchte
haben, regeln sie solche Angelegenheiten untereinander.
Verliert z.B. ein Mitglied eines Stammes bei
Auseinandersetzungen mit einem anderem Stamm sein Leben,
so werden andere Stдmme mдяigend eingreifen. Es wird ein
Ausschuя einberufen, der sich aus den Fьhrern der
Stдmme, den politischen Fьhrern und anderen wichtigen
Personen zusammensetzt. Dieser Ausschuя wird
Verhandlungen mit den verfeindeten Stдmmen fьhren und
nach einer Lцsung des Konfliktes suchen. Wenn der Streit
beigelegt ist, wird dies mit einem Festmahl gefeiert, an
dem die Mitglieder der zuvor verfeindeten Stдmme, die
Mitglieder der Stдmme, die an der Versцhnung beteiligt
waren, die Vermittler und die Mitglieder des Ausschusses
teilnehmen. Das Ziel solcher Verhandlungen ist es,
weiteres Blutvergieяen zu vermei-den. Auch stellt man
durch die Heirat von Angehцrigen verfeindeter Stдmme
kьnstliche Verwandtschaften her, дhnlich der
Heiratspolitik der europдischen Kцnigs- und
Fьrstenhдuser, um vorab blutige Auseinandersetzungen zu
verhindern. Die Besatzungsmдchte Kurdistans hatten und
haben ein Interesse an den Auseinandersetzungen der
Stдmme und schьren sie hдufig, so daя die Fehden
zwischen den Stдmmen oft lдnger dauern und viel blutiger
verlaufen, als dies ohne Einmischung der Fall wдre.
Zu einem einzigen Stamm kцnnen
mehrere tausend Familien gehцren, die jedoch nicht
gemeinsam auf einem Terrain leben. Sie leben in
Dorfgemeinschaften, wobei auch Familien aus zwei oder
auch mehreren Stдmmen gemeinsam in einem Dorf leben.
Manche Dцrfer sind so kosmopolitisch, daя aus vielen
verschiedenen Stдmmen ein oder zwei Familien dort leben.
In diesen Dцrfern geht es demokratischer zu als in
anderen. Jedes Dorf hat einen eigenen Anger, auf den alle
Dorfbewohner den gleichen Anspruch haben. und ihre Tiere
dort weiden lassen kцnnen. Darьber hinaus gibt es in
manchen Dцrfern einen Zozanplatz. Abgesehen davon sind
die Besitzverhдltnisse sehr unterschiedlich, und auch
wenn in den letzten Jahrzehnten der Groяgrundbesitz
abgenommen hat, so gibt es doch noch Dцrfer, deren
gesamter Boden sich in der Hand eines Groяgrundbesitzers
befindet. Diese Groяgrundbesitzer sind oftmals
erbarmungslos und brutal und halten die Bauern nicht nur
in finanzieller Abhдngigkeit. Die Dorfbewohner nennen
diese Sorte Aga „Xunmij", was Blutsauger bedeutet.
Innerhalb der Kleinfamilie ist der
Vater das Oberhaupt, nach dessen Tod die Mutter diese
Rolle ein-nimmt. Innerhalb der kurdischen Gesellschaft
gibt es eine strenge Arbeitsteilung. Die im Haus
anfallen-den Arbeiten sind die Aufgabe der Frau. Die
Feldarbeit, Viehzucht und das Hьten der Tiere hingegen
ist Aufgabe des Mannes. Auch wдhrend des Zozan, d.h.
wenn die Kurden zu ihren Zeltplдtzen auf die Hoch-ebenen
ziehen, weil es in den Sommermonaten in den Tдlern zu
heiя und trocken ist, ist die Arbeitsteilung geregelt.
Die Frauen erledigen alle Arbeiten, die mit dem Zozan
zusammenhдngen, wie die Herstellung von Butter, Joghurt,
Kдse usw., wдhrend die Mдnner die Saat und Feldarbeit
bestellen. Gemдя ihrem Alter werden auch die Kinder an
verschiedene Aufgaben herangefьhrt, da jede Arbeitskraft
benцtigt wird. Die Hierarchie innerhalb der Familie ist
geschlechts- und altersabhдngig. Die Jьngeren schulden
den ƒlteren Respekt, und die ƒlteren erwarten Gehorsam
von den Jьngeren.
Die strikte Einhaltung von
gesellschaftlichen Normen und Traditionen hat bewirkt,
daя das kurdische Volk seine gemeinsame Identitдt in
allen Teilen Kurdistans bewahren konnte. Besuch ist von
der innerfa-miliдren Hierarchie ausgenommen. Ein
kurdisches Sprichwort lautet „mevan mevane Xude ye" -
„Besuch ist Gottes Besuch". Es gibt strenge Regeln fьr
die Gastgeber. Wдhrend der Besuch iяt und trinkt, mьssen
sie mit ihm zusammen essen. Sie dьrfen auch nicht von
der Tafel aufstehen, bis er sein Mahl beendet hat. Wьrde
der Gastgeber aufstehen, so wьrde dies bedeuten, daя der
Besuch unerwьnscht ist. Selbst wenn die Gдste gesдttigt
sind, wird man sie immer wieder auffordern, weiter zu
essen und zu trinken. Dies geht so weit, daя Personen,
die diese Rituale nicht kennen, beispielsweise
europдische Gдste, sich bedrдngt und erdrьckt fьhlen
kцnnen ob dieser ьberschwenglichen Gastfreundschaft.
Braut oder Brдutigam fьr Kinder im
heiratsfдhigen Alter werden von den Eltern ausgesucht.
Mit weni-gen Ausnahmen werden die Betroffenen nach ihrem
Einverstдndnis gefragt. Mit einem vorgeschobenen
Besuchsgrund wird der junge Mann mit einem Elternteil
oder Verwandten die Familie des Mдdchens be-suchen.
Diese kennt den eigentlichen Grund des Besuches schon
vorher, denn in Kurdistan ist es anson-sten nicht nцtig,
seinen Besuch anzumelden. Nur aus diesem Anlaя wird die
Familie des Mдdchens ge-fragt, ob man sie besuchen
dьrfe. Wenn die Familie des Mдdchen die Heirat
befьrwortet, wird sie mit einem Besuch einverstanden
sein, ansonsten wird sie zwei-, dreimal ablehnen.
Stammen der Junge und das Mдdchen aus dem gleichen Dorf,
wird zuvor kein Besuch stattfinden, sondern es wird
direkt um eine Einladung gebeten, bei der man um die
Hand der Tochter anhalten will. Auch hierbei wird die
Familie des Mдdchens unter verschiedenen Einwдnden
ablehnen, wenn sie nicht mit der Heirat einverstanden
ist. Selbstverstдndlich wird sie die Familie des Jungen
nicht vor den Kopf stoяen, sondern sagen: „Unsere
Tochter ist noch zu jung", „ihre Mutter schafft den
Haushalt nicht ohne sie" oder dergleichen. Die andere
Seite weiя dann, was eigentlich gemeint ist und wird
sich zurьckziehen. Aber durch die taktvollen Ausre-den
ist es mцglich, das nachbarschaftliche Verhдltnis der
Familien nicht zu zerstцren. Manchmal passiert es jedoch
auch, wenn es zu keiner Einigung kommt, daя der Junge
das Mдdchen entfьhrt, um eine Ein-willigung zu
erzwingen. Zum einem gibt es einseitige Entfьhrungen,
bei denen der Junge das Mдdchen ohne seine Einwilligung
entfьhrt, zum anderem passieren diese Entfьhrungen mit
Zustimmung und Einwil-ligung des Mдdchens, was eher als
ein gemeinsames Durchbrennen bezeichnet werden kann.
Normaler-weise wird das zukьnftige Brautpaar nach dem
Besuch nach seinem Einverstдndnis gefragt. Sollte es
noch Vorbehalte oder Unstimmigkeiten geben, werden die
Eltern diese durch №berzeugen und №berreden auszurдumen.
Nachdem dies geschehen ist, wird die Familie des
Brдutigams einen Ausschuя einberufen, wobei man darauf
achtet, daя dem Personen angehцren, die Einfluя auf die
Familie des Mдdchens haben. Dieser Ausschuя „Xazgigi"
berдt die Hцhe des Brautpreises, der Mitgift und
Aussteuer und wer was zu sagen hat. Nachdem diese
Beratungen „Misewre abgeschlossen sind, geht der „Xazgin"
zur Familie des Mдdchen. Diese hat natьrlich Beratungen
durchgefьhrt und ist nicht unvorbereitet. Auf diesen
Treffen wird nun ьber den Brautpreis, der aus Geld oder
lebendigen Tieren bestehen kann, ьber die Mitgift und
Aussteuer, die aus Geschenken, Geld, Gold, Teppichen,
Kleidung, Waffen und anderem bestehen kann, verhandelt.
Manchmal reicht ein einziges Treffen fьr die
Verhandlungen aus, hдufig finden aber mehrere Treffen
statt. Schlieяlich geht es um die Zukunft des Paares.
Nachdem die Verhandlungen abgeschlossen sind, setzen die
Familien den Verlobungs- und Hochzeitstermin fest.
Bei der Hochzeit wird die Braut zum
Hause des Mannes gefьhrt. Dort wird ihr auf der
Tьrschwelle ein Holzlцffel oder ein Porzellanteller, der
zuvor aus dem Haus ihrer Eltern stibitzt wurde, vor die
Fьяe gelegt. Diesen Haushaltsgegenstand zertretend
betritt sie das Haus ihres Mannes. In einigen Gegenden
soll dieser alte Brauch Glьck bringen. Das neue Mitglied
der Familie - die Braut - spricht ein Jahr lang oder
auch bis zur Geburt des ersten Kindes nicht direkt mit
ihren Schwiegereltern. Wenn sie etwas sagen mцchte,
wendet sie sich entweder an eine Schwдgerin oder an
einen jьngeren Schwager. Die Schwiegermutter,
Schwiegervater und Schwдger richten das Wort direkt an
die junge Frau. In den ersten Monaten wird der jungen
Frau keine Arbeit direkt gezeigt oder zugewiesen. Sie
geht den anderen Familienmitgliedern zur Hand. Erst
spдter regelt es sich, dass sie bestimmte Arbeiten
automatisch ganz ьbernimmt. So wird sie durch Zuschauen
in die Arbeitsteilung der Familie integriert. In den
Stдdten haben diese starren Traditionen sich schon
gelockert. Dort reden Schwiegermutter und
Schwiegertochter oft schon vor der Hochzeit miteinander
und ihr Verhдltnis дndert sich auch nach der Hochzeit
nicht. Obwohl die kurdische Frau ausgebeutet und
unterdrьckt wird, entscheiden die Frauen mit ihren
Mдnnern gemeinsam, was nach auяen jedoch als
Entscheidung der Mдnner dargestellt wird.
Obwohl das kurdische Volk ьberwiegend
dem Islam angehцrt, hat dieser nie einen allumfassenden
Einfluя erhalten. Viele Traditionen aus der Zeit der
wesentlich дlteren Zerduschi-Religion sind bis heute
erhalten geblieben, wie der gemeinsame Tanz von Mдnnern
und Frauen. Auch heute noch werden diese Kreistдnze, die
den religiцsen Ritualen der Zerduschi-Religion
entstammen, bei Festen getanzt. Ebenso hat sich die
Verschleierung der kurdischen Frau nie ganz
durchgesetzt. Zwar tragen die Frauen Kopftь-cher, jedoch
nicht so, dass kein Haar zu sehen ist, wie es der Islam
vorschreibt. Natьrlich kann und darf man die Stellung
der kurdischen Frau nicht mit der der europдischen Frau
vergleichen. Vergleicht man sie aber mit der anderer
islamischer Gesellschaften, stellt man fest, dass es
trotz Unterdrьckung durch patriarchalische und
hierarchische Strukturen spezifische Eigenarten gibt.
Das starre Festhalten an Traditionen ist auch als eine
Art Abwehrmechanismus gegenьber der Fremdherrschaft zu
verstehen: Als Versuch, die eigene Identitдt zu
bewahren. Wie die befreiten Gebiete in Sьdkurdistan
zeigen, hдtte das kurdische Volk seine Kultur in
Eigeninitiative entwickeln kцnnen, wenn es einen eigenen
Staat gehabt hдtte. Denn trotz stдndiger Bedrohung
richtete es in den befreiten Gebie-ten sofort
verschiedene Betreuungs- und Bildungsangebote ein.
Dies ist ein Ausschnitt der Lebensbedingungen, unter
denen die ьberwiegende Mehrheit der KurdInnen lebt.
Dabei gibt es natьrlich eine Reihe von Ausnahmen und
Verдnderungen. So hat sich die Stellung der
Stammesfьhrer erheblich verдndert. Wдhrend sie frьher
automatisch ehrfurchtsvoll und respektvoll behandelt
wurden, so mьssen sie sich heutzutage den Respekt der
Menschen erst durch ihr eigenes Verhalten verdienen. Und
auch in den Stдdten hat es viele Verдnderungen gegeben.
In den letzen Jahrzehnten haben die revolutionдren und
demokratischen Krдfte Kurdistans einen positiven Einfluя
auf das gesellschaftliche Leben ausgeьbt, indem sie
versuchen, die feudalistischen Strukturen zu verдndern,
ohne dabei ihre kurdische Identitдt aufzugeben
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